Personalakte statt Tatortanalyse – Dr. Thomas Müller zu Gast

Österreichs bekanntester Kriminalpsychologe im Interview – ein Gespräch über Human Resources, Zeitgeist & warum WIR eine Abkürzung ist und wofür sie steht.

Profiler trifft Personalarbeit

Wenn Dr. Thomas Müller einen Raum betritt, merkt man es. Nicht, weil er laut wäre – sondern weil es leise wird. Man hört zu. Man schaut hin. Und man denkt mit.
Das mag daran liegen, dass er Jahrzehnte im Auftrag der inneren Sicherheit gearbeitet hat. Oder daran, dass er über Dinge spricht, die uns alle betreffen – nur eben mit einer Klarheit, die unter die Haut geht.

Als langjähriger Leiter der Operativen Fallanalyse im österreichischen Bundeskriminalamt kennt er sich mit extremen Verhaltensweisen aus. Und doch ist es nicht das Spektakuläre, das ihn interessiert – sondern das Menschliche. Die kleinen Signale, die oft übersehen werden. Die Frage hinter der Frage.

In diesem Gespräch mit SCHUHFRIED geht es nicht um Serienmörder – sondern um das, was in Bewerbungsgesprächen, Teammeetings oder Vorstandsetagen täglich passiert: soziale Interaktion. Dr. Müller zeigt, wie kriminalpsychologische Prinzipien auch im Unternehmenskontext wirken – etwa im Recruiting, in der Mitarbeiterentwicklung oder in der Führung. Warum Neugier kein Nice-to-have ist. Und was wir uns bei Christoph Kolumbus abschauen können, wenn es um die Frage geht: Wie findet man die beste Crew?

Ein Interview über Muster, Mut – und die Frage, warum man nicht nur sehen, sondern auch verstehen muss.

Für alle, die lieber hören als lesen: Die Audio-Version des Interviews finden Sie am Ende des Beitrags.

Dr. Thomas Müller war Leiter der Operativen Fallanalyse im österreichischen Bundeskriminalamt und ist Experte für Persönlichkeitsprofiling, Tätertypologien und Gewaltprävention. Heute unterstützt er Unternehmen mit praxisnahen Seminaren und Vorträgen zu Kommunikation, Führung und Recruiting. Dabei zeigt er, wie man problematische Verhaltensmuster früh erkennt und fundierte Entscheidungen trifft. Als Lehrbeauftragter teilt er sein Wissen weltweit – von Europa bis Nordamerika.

Im Gespräch mit Mag. Margit Herle und Mag. Gerald Schuhfried – SCHUHFRIED Gmbh.

SCHUHFRIED: Für alle, die das noch nicht wissen, warum sind Sie den Weg in die Kriminalpsychologie gegangen?

Dr. Thomas Müller: Ich war Streifenpolizist. Und damals war die Regel: Wer nicht verheiratet war oder in einer festen Beziehung lebte, hatte meistens an Weihnachten Dienst. Klar – die Verheirateten sollten bei den Kindern sein, unterm Weihnachtsbaum. Ich war also alleinstehend, und in Innsbruck – wo ich damals im Dienst war – hab ich drei oder vier Jahre hintereinander, komischerweise immer am 24. Dezember, den gleichen Einsatzort bekommen. Immer dieselbe Familie. Und jedes Mal hat der Vater, ziemlich betrunken, seine kleinen Kinder – wirklich kleine Kinder – vorm Weihnachtsbaum verprügelt. Wir konnten zwar helfen: haben die Kerzen angezündet, dem Vater den Alkohol weggenommen, ein Gebet gesprochen, versucht zu deeskalieren. Aber warum der das gemacht hat – das konnte mir keiner erklären.

Und weil ich neugierig war, bin ich halt an die Uni gerannt und hab Psychologie studiert. Irgendwann war ich dann fertig – aber ich saß immer noch im Funkstreifenwagen. Dann hab ich mir gedacht: Diese Psychologie, die ich da gelernt hab, die müsste doch in der Exekutive auch was bringen. Aber das war damals in Österreich… naja, vielleicht ein bisschen zu früh. Also bin ich nach Amerika gegangen. Und dort war die Kriminalpsychologie schon ein Thema. Dann ist in Österreich etwas passiert. Es sind die Briefbomben hochgegangen. Und es gab einen Fall, bei dem jemand elf Prostituierte ermordet hat. Und dann haben sie mich angerufen und gesagt: „Du, magst nicht zurückkommen?“



SCHUHFRIED:
Was würden Sie einem jungen Menschen heute raten, um beruflich und persönlich erfolgreich zu sein?

Dr. Thomas Müller: Mir sind da zwei Dinge wichtig – und ich will nicht behaupten, dass ich der Erste bin, der das so gesagt hat. Aber junge Menschen kommen in meinen Vorlesungen oft zu mir und fragen: „Was muss ich heute tun, damit ich in einer Welt voller KI, Innovation, Reisetätigkeit, Flexibilität und Freiheit etwas machen kann, das mich interessiert – und womit ich trotzdem auch erfolgreich bin?“

Dazu hab ich eine ganz persönliche Meinung. Erstens: Man muss sein ganzes Leben lang neugierig bleiben. Wenn Sie nicht neugierig sind, verlieren Sie irgendwann die Motivation. Neugier ist etwas ganz Zentrales – und dazu gibt’s eine schöne Geschichte: Man hat einmal Christoph Kolumbus gefragt: „Du bist mit drei Schiffen ins Nichts hinausgefahren – du hast ja nicht gewusst, wo du rauskommst. Du musst doch die besten Seeleute gehabt haben?“ Und Kolumbus hat angeblich gesagt: „Ich konnte ihnen nicht sagen, wohin wir fahren. Aber ich konnte ihnen beibringen, Begeisterung fürs Schiffbauen zu haben.“ Und genau das ist es: Begeisterung für etwas zu entwickeln, neugierig zu bleiben – gerade in einer Welt, die so voller Neuerungen und Entwicklungen ist – das ist ein psychologischer Faktor, an den ich fest glaube. Diese Haltung hat auch mir über Jahrzehnte hinweg die Möglichkeit gegeben, immer wieder etwas Neues auszuprobieren. Immer offen zu bleiben für das, was kommt.

Zweitens: Gehen Sie schwierigen Situationen nicht aus dem Weg. Das ist mir besonders wichtig, vor allem bei jungen Menschen. Man wird nicht weise, wenn immer alles glatt läuft. Man wächst am Misserfolg. Die Tage, an denen etwas nicht funktioniert, an denen man scheitert – das sind oft die Tage, an denen man wirklich weiterkommt. Da passt ein Satz von Seneca wunderbar dazu: „Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht – sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.“ Dieser Gedanke, Schwierigkeiten nicht zu vermeiden, sondern sich ihnen zu stellen, neugierig zu bleiben – der ist mir im Laufe meines beruflichen Lebens immer wichtiger geworden.

Und vielleicht – wenn Sie mich heute fragen, was mich auszeichnet – dann sind es genau diese zwei Dinge: Neugierig bleiben. Und den Herausforderungen nicht ausweichen. Das ist auch das, was ich jungen Menschen in meinen Vorträgen und Lehrveranstaltungen mitgeben möchte.



SCHUHFRIED:
 Man hört immer wieder, dass sich der Arbeitsmarkt verändert, weil junge Leute höhere Ansprüche stellen und Motivation eben nicht nur durch monetäre Anreize finden. Was sagen Sie dazu?

Dr. Thomas Müller: Weil Sie das spannenderweise ansprechen: Genau das kommt immer wieder in meinen Seminaren vor – wenn ich versuche, die Kriminalpsychologie ein Stück weit in den Wirtschaftsbereich hineinzubringen. Für Personalleiterinnen und -leiter, für HR-Verantwortliche, für Leute, die Personal auswählen, betreuen, beraten – also klassische Businesspartner. Und immer wieder höre ich dasselbe Argument: „Mit der jungen Generation, mit der Generation Z – die wollen ja nichts mehr arbeiten. Die wollen nur Homeoffice, Flexibilität, 4-Tage-Woche – und fordern dabei ständig Wertschätzung!“ Was, glaube ich, viele gar nicht mehr wissen, ist: Was bedeutet denn eigentlich Wertschätzung? Ich muss doch niemanden loben, damit er sich wertgeschätzt fühlt. Ich kann genauso gut Interesse zeigen. Ich kann zugeben: „Sie wissen da etwas, das ich nicht weiß – erklären Sie mir das mal! Was können Sie einbringen?“

Oder ich stelle offene Fragen. Denn wenn ich durch die Firma gehe und nur Fragen stelle, die man mit Ja oder Nein beantworten kann, dann braucht man sich nicht wundern, wenn nichts zurückkommt. Ich hab mit vielen jungen Leuten aus der Generation Z gesprochen. Und ganz ehrlich? Die sind nicht faul. Im Gegenteil: Es gibt gute Studien, die zeigen, was diese jungen Leute eigentlich wollen – und das sind drei ganz konkrete Dinge: Erstens, Sie wollen Eigenverantwortung. Sie wollen nicht nur irgendwo reinkommen, drei Arbeitsschritte machen und am Abend wieder verschwinden. Die wollen mitdenken, gestalten, Verantwortung übernehmen. Zweitens, Sie wollen Sinn in dem, was sie tun. Und da muss ich gar nicht lange in der Psychologie oder der Psychoanalyse kramen – das hat schon Viktor Frankl gesagt: „Es gibt nichts, was einen Menschen so stark und widerstandsfähig macht, wie das Erleben von Sinn.“

Und damit meine ich nicht immer das Große, sondern auch das Kleine. Wenn ich sehe, dass meine Arbeit Sinn hat, dann bin ich bereit, die berühmte Extrameile zu gehen. Drittens, Sie sagen offen: „Ich möchte mich diversifizieren.“ Ja, ich will arbeiten, ich will Geld verdienen, ich will mich einbringen – aber ich will auch Zeit haben für Freunde, für Familie, für ein Leben außerhalb der Arbeit. Und wenn wir über Resilienz sprechen, dann ist genau diese Diversifizierung des Selbstwertgefühls etwas sehr Gesundes. Wenn jemand alles nur auf den Job fokussiert und dann wird ihm dieser Job weggenommen – dann kracht oft das ganze Selbstbild zusammen. Und ja, klar gibt’s auch Leute, die einfach bequem sind. Gab’s früher auch. Ich sag nur: Vor 40 Jahren haben auch schon welche zu Mittag die Flasche aufgemacht – nur hat man’s halt anders genannt.

Die Frage ist also nicht, ob sie sensibler sind oder fordernder – ich glaube, wenn man’s positiv sehen will: Sie denken mit. Sie sagen nicht mehr nur: „Chef, was soll ich machen?“ Sondern: „Chef, ich hätte da einen Vorschlag.“ Und meine Empfehlung an Unternehmen, die sagen: „Wir finden keine Leute mehr“ – ist ganz einfach: Erstens: Rausgehen! Glauben Sie nicht, dass Sie mit einer Zeitungsanzeige die Menschen erreichen, die wirklich was wollen. Gehen Sie raus – auf Messen, in Schulen, in Unis. Zeigen Sie sich. Zweitens: Wecken Sie Begeisterung! Und da komme ich wieder zum Kolumbus zurück. Der hat auch nicht gesagt, „Ich weiß, wo wir rauskommen“ – der hat gesagt: „Ich bringe den Leuten bei, sich fürs Schiffbauen zu begeistern.“

Wenn Sie es schaffen, in jungen Menschen die Begeisterung für eine bestimmte Aufgabe zu wecken – sei es in der Diagnostik, bei Testsystemen, in der Entwicklung von Messgeräten – dann müssen Sie sich keine Sorgen mehr machen.
Wenn jemand Sinn darin sieht und Entwicklungsmöglichkeiten hat, dann läuft das von selbst.



SCHUHFRIED: 
Wie stehen Sie zum Einsatz von KI in der Personalauswahl?

Dr. Thomas Müller: Ich wähle keine Leute aus – ich mache keine Personalauswahl. Ich führe Sicherheitsgespräche. Und ja, die KI hat zweifelsohne ihren Platz. Sie ist eine unglaubliche Unterstützung. Aber wenn KI-gesteuerte Systeme anfangen Personal auszuwählen, tausende von Fotos, Lebensläufe und sonstige Daten miteinander vergleichen – dann machen sie am Ende genau das, was ihnen der Programmierer gesagt hat. Punkt. Aber der zündende Gedanke – dieses „Hardcore-Denken“, wenn zwei, drei Leute zusammensitzen und gemeinsam eine Idee entwickeln, etwas intuitiv erfassen, die Innovation des Augenblicks – das hat die KI nicht.

Ich bin überzeugt: Die Gesamtheit ist immer mehr als die Summe ihrer Einzelteile. Gerade in der Kriminalpsychologie. Klar – wenn’s darum geht, tausende Tatortbilder zu durchsuchen, da kann KI helfen. Keine Frage. Aber die Analyse von Kapitalverbrechen, das Einordnen von Persönlichkeitsmustern – das ist für mich eine interdisziplinäre Aufgabe, die nur von Menschen gemacht werden kann, die sich austauschen, diskutieren, widersprechen. Und ganz ehrlich? Ich möchte in keiner Welt leben, in der ein Algorithmus entscheidet, ob ich einen Job bekomme oder nicht. KI ist super. Aber man darf sie nicht überhöhen oder blind übernehmen.

In der Psychologie gibt’s da einen passenden Begriff: das „logische Delirium“. Das beschreibt einen Zustand, in dem jemand etwas behauptet – und alle sagen: „Stimmt.“ Nur weil keiner mehr hinterfragt. Die KI sagt: „Das passt.“ Also passt es. Ende. Um das zu verstehen, reicht ein Blick in die Geschichte: Da gab’s namhafte Persönlichkeiten, die allen Ernstes gesagt haben, man könne die Sklaverei nicht abschaffen, weil sonst der Zuckerpreis steigen würde. 42 Millionen Menschen – Schwarzafrikanerinnen und Schwarzafrikaner – wurden deportiert, versklavt, gefoltert. Nur damit Zucker nicht teurer wird. Wahnsinn, oder? Und genau deswegen: Um nicht in dieses „logische Delirium“ abzurutschen, müssen wir anfangen zu denken. Nicht blind dagegen sein – aber auch nicht alles nachplappern. Nur weil irgendein „goldenes Kalb“ – in dem Fall: die KI – sagt, so ist es. Ich glaube, KI ist gut. Aber sie ist kein Allheilmittel. Und man muss sie immer, immer wieder hinterfragen.



SCHUHFRIED:
Sind Sie der Auffassung, dass die Menschen abgestumpft sind?

Dr. Thomas Müller: Ich glaube, das hat ein bisschen mit Kommunikation zu tun. Viele Menschen meinen, sie würden viel kommunizieren, nur weil sie technisch viel austauschen – aber technische Kommunikation ist per se keine echte Kommunikation, sondern nur Informationsaustausch. Was oft verloren geht, ist die langsame, aber bedeutsame und wertschätzende Form des persönlichen Gesprächs. Einfach mal irgendwo hingehen – durch den Betrieb, durch einen Verein, durch eine Jugend-Fußballmannschaft – und fragen: „Wie geht’s dir?“ Das ist eigentlich ganz einfach. Diese psychologische Form der Kommunikation ist langsam, aber dafür trägt sie. Man geht ein Stück mit, anstatt nur schnell ein „asap“ rauszutippen oder irgendwas in den Chat zu werfen. Deswegen denke ich mir auch: Klar, ich hätte Ihre vier Fragen elektronisch beantworten können. Aber wenn Sie sich die Zeit nehmen, nehme ich mir auch die Zeit. Und dann wird’s vielleicht nicht bei vier Fragen bleiben, sondern es werden zwanzig. Und genau diese Zeit – die ist es, die wirklich zählt.



SCHUHFRIED:
Welche Rolle spielt Wertschätzung in der Führung – gerade in herausfordernden Zeiten?

Dr. Thomas Müller: Naja, ich hab heute in der Früh für die Wirtschaftskammer in Graz einen Vortrag gehalten, und da haben sie mir ganz direkt die Frage gestellt, wie man denn auch in schwierigen Zeiten erfolgreich sein kann. Da hab ich gesagt: Ich kann das nicht wirtschaftlich beantworten – ich komm nicht aus der Wirtschaft. Aber als psychologischer Sicherheitsberater kann ich sagen: Schreibt euch ab morgen das Wort „WIR“ ganz groß auf. Mit drei großen Buchstaben: W für Wertschätzung, I für Interesse und R für Respekt. Und damit sind wir bei der Frage: Was hat die Kriminalpsychologie mit Personalverantwortung zu tun?

Schauen Sie, ich kenne Personalchefs von großen Firmen – die sollten wirklich alles machen, nur nicht Personalchef sein. Die sind unhöflich, gehen den Menschen aus dem Weg, zeigen keinen Respekt – und das sind die, die fürs Personal zuständig sind! Deswegen ist es mir so wichtig zu sagen: Eine wertschätzende Kommunikation ist das A und O. Ich hab unlängst zu einem Personalchef gesagt – er war nicht in Österreich, er war im Ausland: „Sie müssen auf die Leute zugehen. Sie müssen mit den Leuten reden. Sie können nicht einfach durchs riesige Großraumbüro Richtung Toilette durchgehen, ohne stehen zu bleiben.“ Sie sind der Chef – Sie müssen kommunizieren. Und was sagt er? „Nein, das will ich nicht, das ist nicht meine Aufgabe.“ Da hab ich gesagt: „Sie, wenn Sie als Personalchef nicht reden wollen, dann kommen Sie mir vor wie ein Chirurg, der kein Blut sehen kann. Oder wie ein Biologe, der auf Blätter allergisch ist.“ Wissen Sie, was er darauf sagt? „Ich wollte eh nie Chirurg werden.“ Ist das wirklich eine Antwort?

Wenn wir über Wertschätzung reden, dann reicht’s halt nicht, darüber zu reden. Man muss sie auch leben. Man muss wertschätzend sein, höflich, Respekt vor anderen haben – und Interesse zeigen. Und der Anfang von echtem Interesse ist Neugier!



SCHUHFRIED:
Kann man Neugier lernen?

Dr. Thomas Müller:  Naja, wissen Sie – das ist bei vielen systemrelevanten psychologischen Fragen so. „Kann man Resilienz trainieren?“ Keiner wacht morgens auf und hat plötzlich ’ne Vierer-Resilienz – und zwei Tage später eine Sechser. Das funktioniert so nicht. Sie müssen das trainieren, genauso wie Sie einen Bizeps trainieren. Und Neugier ist da keine Ausnahme – auch die kann und muss man trainieren.

Es kann mich interessieren, welche Schuhe Sie tragen. Oder wie die Sanitärartikel bei Ihnen im Badezimmer angeordnet sind. Es kann mich interessieren, wenn ich in einer Cafeteria sitze und die Leute beobachte, wie sie über den Zebrastreifen gehen. Und wenn ich das drei Ampelphasen lang mache, stelle ich plötzlich fest: Es gibt keine zwei Menschen, die gleich über denselben Zebrastreifen gehen. Was heißt das für mich? Bevor ich Schlussfolgerungen ziehe, muss ich erst mal hinschauen. Und genau da setzt für mich die Neugier an!

In der Kriminalpsychologie unterscheiden wir da sehr klar: Beobachten, Bemerken, Interpretieren. Das sind drei unterschiedliche Ebenen. Neugierig zu sein heißt: Ich gehe raus – vielleicht mitten ins Stadtzentrum – und frage mich einfach: Was sehe ich eigentlich? Und wenn Sie dann sagen: „Ach, eh alles ganz normal“ – Dann sag ich: Nein. Es ist nicht normal. Sie sehen jeden Tag etwas anderes. Sie müssen nur hinschauen. Und diese Frage – warum ist das so? – das ist doch das Spannende. Mich als Kriminalpsychologen interessiert übrigens nie das Wer, nie das Wo, nie das Wann oder das Wie. Mich interessiert eine einzige Frage: Warum ist etwas passiert? Denn: Wenn ich verstehe, warum etwas passiert, muss ich es nicht mehr fürchten.

Dieser Satz stammt nicht von mir – sondern von Marie Curie, die nicht ganz unbegabt war, immerhin hat sie zwei Nobelpreise bekommen. Sie hat gesagt: „Nothing in life is to be feared, it is only to be understood. Now is the time to understand more, so that we may fear less.“ Und genau das ist für mich der Kern: Die Frage „Warum?“ ist das Eingangstor zur Neugier. Und zur Erkenntnis, dass in jedem Moment etwas Neues zu entdecken ist.



SCHUHFRIED:
Thema Resilienz – Wie lernt man, mit Unsicherheit oder Angst umzugehen, ohne sich davon lähmen zu lassen?

Dr. Thomas Müller: Nein. Ich sag Ihnen was: Wenn Sie in der Früh aufwachen und sich denken, heute ist ein schlechter Tag – zwei miese Kundentermine, eine Kollegin stellt eine Frage, die Sie schon ewig beantworten hätten sollen, haben’s aber nicht – und am liebsten würden Sie gleich ins Krankenhaus ausweichen, dann… dann können Sie nicht mutig werden. Man wird nicht mutig, weil man keine Angst hat – sondern weil man lernt, mit der Angst umzugehen. Mut heißt nicht, keine Angst zu spüren – sondern, sich nicht davon abhalten zu lassen. Die alten Stoiker haben das schon gewusst: Denken, Streben, Handeln, Meiden, Freisein. In der Früh aufstehen und sagen: „Ich freue mich, dass heute ein schwieriger Tag ist.“ Und am Abend dann ins Bett gehen und sagen: „Puh… es war ein schwieriger Tag. Aber eigentlich war’s gut.“

Ob es jetzt der Stock war, den ich umlaufen hab können, die Untiefe, die ich umschifft hab, der Baum, den ich weggesägt hab, obwohl er sich mitten in den Weg gelegt hat – oder das Kind, das ich noch rechtzeitig ins Spital bringen konnte: Diese Situationen, die ich gemeistert habe – das sind die Momente, die mich resilient gemacht haben. Mit der Angst ist es das Gleiche: Je öfter Sie ihr aus dem Weg gehen, desto empfindlicher werden Sie. Dann braucht’s mit der Zeit immer weniger, dass Sie sagen: „Oje, das wird unangenehm.“ Sie verlieren die Toleranzgrenze. Und genau deswegen sage ich den Leuten in meiner Vorlesung auch: „Schauen Sie – Sie sind heute aus der ganzen Steiermark nach Graz gekommen. Und wenn Sie jetzt heimfahren, und Sie kommen irgendwo in eine Gegend, die Sie nicht kennen: Tun Sie sich einen Gefallen – schalten Sie das Navi aus.“ Haben Sie keine Angst! Es ist völlig egal, wo Sie rauskommen. Kurbeln Sie das Fenster runter, fragen Sie: „Wo bin ich?“ – Es passiert nichts. Also: Gehen Sie der Situation nicht aus dem Weg.

Ob’s Mut braucht? Interesse! Neugier! Ich kann nur sagen: Bleiben Sie neugierig. Bleiben Sie aufgeschlossen. Hören Sie nie auf zu lernen. Bleiben Sie nie stehen. Lieber auf einem neuen Pfad stolpern, als auf ausgetretenen Wegen stehen bleiben.


„Lieber auf einem neuen Pfad stolpern, als auf ausgetretenen Wegen stehen bleiben.“

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