SCHUHFRIED (SF): Wie würden Sie einem Laien den Flynn-Effekt erklären?
Jakob Pietschnig (JP): Das sind positive Veränderungen der Testresultate in Intelligenztests in der Bevölkerung über die Zeit. Ob das jetzt notwendigerweise eine Änderung der Populationsintelligenz an sich ist, nämlich die Änderung von allen kognitiven Fähigkeiten gleichermaßen, die unsere Intelligenz ausmachen, das würde ich da noch unbeantwortet lassen.
SF: Über welchen Zeitraum und in welchem Ausmaß war dieser Anstieg?
JP: Eigentlich sehen wir diese Änderungen in der Fähigkeit, seitdem es formale Fähigkeitstests gibt, d. h. seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Diese Veränderung war mindestens bis in die 80er Jahre in die positive Richtung. Sie hat fluide Intelligenz [siehe Glossar am Ende des Textes] stärker betroffen als kristalline Intelligenz. Beim sogenannten Full-scale IQ könnte man von einem Anstieg von 3 IQ Punkten pro Dekade sprechen. Bei fluider I. war es mit 4 IQ Punkten etwas mehr und bei kristalliner I. war es mit 2 IQ Punkten etwas weniger. Dieser Anstieg ist aber nie linear gewesen. Es gab immer Phasen mit stärkeren und schwächeren Zunahmen. In den 80er Jahren sind diese Zunahmen global zurückgegangen und in manchen Ländern gab es sogar eine Stagnation oder Umkehr. Diese negative Veränderung wäre dann der Anti-Flynn Effekt. Ich würde diesen aber noch nicht als gesichert betrachten.
Marco Vetter (MV): Der unterschiedliche Anstieg zwischen fluider und kristalliner Intelligenz ist interessant, weil er eigentlich kontraintuitiv ist, oder?
JP: Genau. Man würde vermuten, dass dieser Anstieg auf irgendwelche Änderungen in der Bildung zurückzuführen ist, weil man damit relativ schnell etwas verbessern kann. Dies würde aber eher zu einer Zunahme der kristallinen I. führen. Tatsächlich sehen wir aber, dass die fluide I. stärker angestiegen ist.
MV: Aus der Perspektive der Testentwicklung betrachtet, ist das klassische Testmaterial zur Messung der fluiden I. Matrizen, welche über die Zeit konstant geblieben sind und nach wie vor häufig verwendet werden. Bei der kristallinen I. hingegen ist es relativ schwierig, das Testmaterial über Jahre konstant zu halten, da sich Wortschatz, Allgemeinwissen und dergleichen über die Zeit stärker ändern. Könnte dieses Methodenartefakt ein Grund sein, warum der Flynn-Effekt weniger stark bei der kristallinen I. beobachtbar ist?
JP: Auch ich vermute, dass es bei der kristallinen I. zu einer Maskierung der Flynn Effekte kommt, weil diese Testaufgaben mit der Zeit schwieriger oder sogar falsch werden. Dadurch könnte sich der Flynn Effekt weniger oder sogar überhaupt nicht zeigen. Im Intelligenz-Struktur-Test aus den 70er Jahren gibt es beispielsweise im Subtest „Satzergänzung“ die Testaufgabe „Was ist die wichtigste Komponente eines Fernsehers?“ und die richtige Antwort wäre „Bildröhre“. Das kann eine Person, die nach den 2000er geboren ist, gar nicht mehr richtig beantworten, weil es die Bildröhre einfach nicht mehr gibt. Dadurch kommt es zu dieser Maskierung.